Sierra Madre – Muttergebirge – nennen die Mexikaner den 1.300 km langen Gebirgszug, der den gesamten Norden ihres Landes prägt.
Der westliche Arm (Sierra Madre Occidental) endet bei der Stadt Guadalajara, der östliche (Sierra Madre Oriental) bei Mexiko-Stadt. Zusammen umfassen beide Gebirgsstränge das zentrale Hochland wie eine Mutter ihr Kind; Poesie mit realem Hintergrund – die Bodenschätze und landwirtschaftlichen Produkte der Sierra Madre ernähren die Region seit Jahrhunderten.
Mit Höhen bis 3.600 m ist die Sierra Madre ein imposantes Gebirge. Während sich die Sierra Madre Oriental vorwiegend aus Kalk stein zusammensetzt und teilweise von eingestürzten Höhlen durchzogen ist, entstand die Sierra Madre Occidental durch Vulkanismus. Dies geschah vor 20-70 Millionen Jahren und hängt mit der Kollision der nordamerikanischen und pazifischen Erdkrustenplatten zusammen, die auch zur Auffaltung der Rocky Mountains führte. Im Zuge von explosiven Vulkanausbrüchen wurden damals mächtige, bis 1 km dicke Schichtpakete Auswurfmaterial abgelagert und später zu Gestein verfestigt. Zum einen handelt es sich um das nach den Anden benannte Andesit, das in seiner Zusammensetzung zwischen Granit und Basalt liegt. Es bildet die untere Schicht in der Sierra Madre. Rhyolit, ein feinkörniges Äquivalent zu Granit, liegt obenauf.
Da die Vulkane Partikel in buntem Gemisch auswarfen – von Staubkorn- bis Autogröße – erscheinen die resultierenden Gesteine in völlig ungeordneter Struktur. Größere Konglomerate können der Erosion länger widerstehen. Sie bilden die Steilwände der Canyons und die Sturzkanten der großen Wasserfälle wie Basaseachi (246 m) oder Piedra Volada mit einem freien Fall von 453 m.
Die Sierra Tarahumara ist ein eigener Gebirgsstock im Norden der Sierra Madre Occídental. Auf einer Fläche von 60.000 km² hat sich hier das größte Canyonsystem der Welt eingegraben – die Kupferschluchten.
Wie zerklüftet die Sierra Tarahumara ist, zeigt ein Blick auf das Höhenprofil: ihre maximale Höhe beträgt 3.306 m (Cerro Mohinora), der niedrigste Punkt 220 m (beim Zusammenfluss der Flüsse Septentrión und Chinipas). Bisher sind die Beschreibungen von Carl Lumholtz, der 1890 als erster Norweger Teile des mexikanischen Canyonlandes erforscht hat und Berichte neuerer Expeditionen die einzigen Informationsquellen.
Eines ist sicher, die Ausmaße der Schluchten sind schwindelerregend: Die Barranca Urique, vom Río Urique durchströmt: 1.879 m tief soll sie sein. Der Fluss kann bei hohem Wasserstand vollständig mit robusten Booten befahren werden. Er mündet weiter südlich in den Río Fuerte. Nördlich des Ortes Urique geht die Barranca Urique in die 1.760 m tiefe Barranca del Cobre (Kupferschlucht) über – Namensgeber der gesamten Region. Die Bezeichnung stammt noch von den alten Kupferminen.
Die Barranca de Sinforosa wurde vom Río Verde über die Jahre geformt. Mit 1.830 m Tiefe und sehr eng beieinander liegenden Bruchkanten, ist die Schlucht noch heute sehr ursprünglich und wenig besucht. Schwer zu erreichen, wurde sie 1986 zum ersten Mal auf einer Expedition vollständig durchquert. Anders die 1.800 m tiefe Barranca de Batopilas: Oft besucht, musste man früher fünf Tage auf einem unwegsamen Trampelpfad einrechnen. Heute führt eine abenteuerliche Straße in die legendäre Silberstadt Batopilas am Grund des Canyons.
Aber auch die restlichen Kupferschluchten lassen sich sehen: Candameña (1.750 m), Mayo (1.680 m), Huapoca (1.620 m), Chinipas (1.600 m), Septentrión (1.600 m) und Oteros (1.520 m).
Besucher sollten im Lande der mexikanischen Canyons kein Steinkolosseum in Wüstenfarben erwarten. Die Schluchten der Sierra Tarahumara sind eher grüne Oasen, besonders nach der „Regenzeit“ zwischen Juni und September, wenn während heftiger Gewitter über 400 mm/m² Wasser niedergehen. Die Vegetation der Region ist vielfältig und zeigt je nach Höhe unterschiedliche Vegetationszonen:
- Fichten und Tannenwälder bedecken die höchsten Erhebungen. Von 3.000 m abwärts mischen sich Amerikanische Zitterpappeln darunter.
- In 2.500-2.000 m Höhe liegt die Zone der Kiefern- und Eichenwälder; Chihuahua-, Apache- und Gelbkiefern dominieren diese Vegetationszone.
- Im Bereich von 2.000-1.500 m Höhe schließen sich Nusskiefern und Wacholdergewächse an.
- Unterhalb von 1.500 m beginnt der Wüstendornenwald, wo man hauptsächlich an Trockenheit angepasste Gewächse wie Mesquite, Akazien und Agaven findet.
- Am Canyonboden herrscht das wärmste Klima und ausreichend Wasser sorgt für einen üppigen Pflanzenbewuchs. Die natürliche Vegetation wurde jedoch in den Siedlungsgebieten von Obstgärten, insbesondere Orangen-, Mango- und Bananenhainen, verdrängt.
Auch die Tierwelt ist sehr vielfältig; 30 Säugetierarten, über 200 Vogelarten, fast 90 Reptilien- und 20 Amphibienarten sind in der Sierra Tarahumara heimisch. Stark bedroht und fast verschwunden sind Schwarzbären, Biber und Pumas. Gelegentlich kann man Felsenziesel, Maultier- oder Weißschwanzhirsche sichten, und nachts gehört das Geheul der Kojoten immer noch zur geheimnisvollen Musik der Sierra.
Bei den Vögeln zählen Truthahn- und Rabengeier zu den häufigsten Arten. In den Kiefernwäldern der Hochlagen können Diamanthäher oder einer der vielen Spechte beobachtet werden. An den Steilwänden der Schluchten findet man fast immer Segler und Klippenschwalben im Flug. Mit Glück kreisen hier auch Kolkraben, Steinadler, Rotschwanzbussarde oder Wanderfalken am blauen Himmel. Die warmen vegetationsreichen Schluchten sind auch die Heimat von Kolibris, farbigen Stärlingen, dem knallroten Kardinal und farbenfrohen Großsittichen.
Sierra Madre, Sierra Tarahumara, Kupferschluchten: nur langsam geben sie ihre Geheimnisse preis.