Auf der Suche nach Nahrung und Zuflucht verließen die Vorfahren der Wale vor 60 Millionen Jahren das Land und fanden in den Ozeanen einen neuen Lebensraum.
Dort entwickelten sie sich zu den größten Lebewesen, die jemals diesen Planeten bewohnten. Feinde hatten sie nicht zu fürchten, bis der Mensch den vielfältigen Nutzen der Wale entdeckte. Die Tiere lieferten unter anderem Tran, Seife, Gelatine, Kämme, Fleisch, Dünger und Parfüm, was sie zur begehrten Jagdbeute machte.
Fragt man einen Reise-Interessierten heute nach der Hauptattraktion in Baja California, so sind es fast immer die Grauwale. Für die Walbeobachtungen ist die Halbinsel weltbekannt, und darauf baut eine ganze Tourismusindustrie auf. Zwar nur vier Monate lang, aber dafür sehr verlässlich. Denn pünktlich wie ein Uhrwerk erscheinen die Wale jedes Jahr gegen Mitte Dezember an der Westküste der Halbinsel und verlassen diese spätestens wieder Anfang Mai. Warum nur diese begrenzte Zeit und wo halten sie sich sonst auf?
Die Tiere kommen aus dem hohen Norden und ihre Wanderung gehört zu den erstaunlichsten Leistungen eines Säugetieres. Einstmals waren Grauwale über den gesamten nördlichen Pazifik und Atlantik verbreitet und kamen sogar in Nord- und Ostsee vor. Nach Jahrhunderten der Bejagung überleben sie heute aber nur noch im Bereich der Behring-See und Tschuktschen-See. Hier halten sich im nördlichen Sommer etwa 20.000 Tiere auf, die in diesen produktiven Gewässern reichlich Nahrung finden. Grauwale gehören zwar zu den Bartenwalen, ernähren sich aber etwas anders als ihre großen Vettern in den Ozeanen. Sie filtern nicht Plankton im Freiwasser, sondern durchkämmen den Meeresboden nach Krebsen, Würmern, Schnecken und anderen Kleintieren. Aus diesem Grunde halten sie immer Kontakt zur Küste in nicht zu tiefem Wasser. Dies auch während ihrer Wanderung, die ab Anfang Oktober in Richtung Süden beginnt. Mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 185 km pro Tag ziehen sie durch den Golf von Alaska, dann weiter entlang der kalifornischen Küste. Um Weihnachten sind sie vor San Diego und erreichen wenig später die Niederkalifornische Halbinsel. Dabei herrscht eine genaue Rangfolge. Die Vorhut bilden einzelne hochschwangere Weibchen. Dann kommen Mütter mit Jährlingen und schließlich kleine Gruppen von halbwüchsigen Weibchen und erwachsenen wie halbwüchsigen Männchen.
In den mexikanischen Gewässern des Pazifiks angekommen, erwachen die nordischen Einzelgänger zu heißblütigen Liebhabern. Zwischen Purzelbäumen und gekonnter Akrobatik vollführen sie ihre Liebesspiele, bei denen zumeist eine Walkuh von zwei Bullen umworben wird. Die trächtigen Weibchen bringen währenddessen die Früchte ihrer Leidenschaft vom Vorjahr in den seichten Lagunen der Baja zur Welt. Bei diesem Ereignis, das 10 m unter Wasser stattfindet, versammelt sich eine große Walgesellschaft. Die Mutter versetzt dem Neugeborenen einen Klaps, damit es an die Wasseroberfläche gelangt, um dort seinen ersten Atemzug zu nehmen. Das Kalb wiegt bei der Geburt zwischen 700–1.400 kg und ist etwa 4–5 m lang. Ein ausgewachsener Grauwal kann Maße von bis zu 16 m Länge und 40 t Gewicht erreichen. In den ersten zwei Monaten nehmen die Walbabys bereits über 1.000 kg zu, was durch die gehaltvolle Muttermilch bewirkt wird, von der sie täglich bis zu 200 l trinken. Dies ist auch von Nöten, da die jungen Wale noch nicht die isolierende Speckschicht der Alttiere besitzen. Erst nach 2–3 Monaten des Säugens sind sie groß und „isoliert“ genug, um die lange Reise zurück in die kalten Gewässer anzutreten. Das Junge hält sich stets dicht bei der Mutter und wird in den Lagunen zum fitten Schwimmer ausgebildet. Nach zwei Monaten (bei Beginn des Zuges nach Norden) hat es bereits sechs Meter Länge und zwei Tonnen Gewicht erreicht, d. h. sein Geburtsgewicht verdoppelt – wohingegen die Mutter während dieser Zeit nicht frisst und stark an Gewicht verliert. Auch während des Zuges wird das Junge weiter gesäugt und erst im Alter von sechs Monaten in den arktischen Gewässern entwöhnt. So legen diese Riesen jedes Jahr fast 20.000 km zurück – die längste bekannte Zugroute eines Säugetieres.
Obwohl man Grauwale in den Wintermonaten entlang der gesamten Westküste Baja Californias beobachten kann, sind sie in größerer Zahl in drei Lagunen von Baja California Sur konzentriert. Alle diese Orte haben flaches, relativ warmes und salzreiches Wasser, das den frischgeborenen Jungen Auftrieb verleiht. Zudem sind sie windgeschützt, von Mangroven gesäumt und als Schutzgebiete ausgewiesen. Von Norden nach Süden sind dies:
- Laguna Ojo de Liebre (Scammon’s Lagoon) südlich von Guerrero Negro
- Laguna San Ignacio etwa 50 km südwestlich der Ortschaft San Ignacio
- Bahía Magdalena/Bahía Almejas westlich der Stadt Cuidad Constitucion
Zur Zeit der Walsaison herrscht an diesen Orten Hochbetrieb. Beobachtungen vom Land aus sind möglich, aber das hautnahe Erlebnis bieten nur die kleinen schnellen Boote der Veranstalter, die den ganzen Tag über mit Gruppen hinausfahren. Schon von weitem erkennt man an der ausgestoßenen Luft, dem Blast, wo sich die Wale befinden. Und da Grauwale sehr aktiv sind, bleiben dem Beobachter unvergessliche Eindrücke. So etwa, wenn Männchen zu mehreren hinter einem Weibchen her schwimmen oder wenn ein Männchen oft mehrere Male hintereinander mit dem ganzen Körper aus dem Wasser schießt und klatschend darauf zurückfällt – ein unvergessliches Schauspiel! Begeisterung ruft hervor, wenn der Schwanz auf das Wasser schlägt oder hoch aus dem Wasser steigt, kurz bevor der Wal abtaucht. Im Gegensatz zu den kiemenatmenden Fischen sind Wale Lungenatmer und darum gezwungen, zum Luftholen an die Wasseroberfläche zu kommen. Beim Atmen öffnen bestimmte Muskeln die Verschlusskappen der Blaslöcher. Beim Auftauchen stößt der Grauwal dann mehr als 1.000 l Luft aus dem Blasloch heraus. Manchmal taucht auch plötzlich der Kopf eines Grauwales neben dem Boot auf und man hat den Eindruck, als würde man genau beäugt. Schön sind dann die Seepocken zu erkennen, die in Form weißlicher Flecken auf der Haut sitzen. Spezialisten können an der Form dieser Flecken die einzelnen Wal-Individuen erkennen. Besonders beliebt sind Walmütter mit ihren Kälbern. Die Jungen sind sehr neugierig und nähern sich manchmal den Booten aus freien Stücken, oft so nahe, dass der sehnsüchtige Wunsch, einmal einen Wal zu berühren, endlich in Erfüllung geht. Mit von der Partie sind bei diesen Exkursionen oft Delfine und Seevögel wie Braunpelikane, Fregattvögel, Möwen, Kormorane, Fischadler und Reiher.
Fast wäre aus diesem heute so beliebten Schauspiel nichts geworden, denn auch die Grauwale standen Anfang des 20. Jahrhunderts kurz vor dem Aussterben. Schon vorher war der Atlantische Bestand nach intensiver Bejagung erloschen und seit 1850 jagte man sie im großen Stil im Pazifik. Nach Schätzungen des damaligen Walfängers Charles Melville Scammon (nach ihm ist die Scammon’s Lagoon benannt) zogen damals zwischen dem 15. Dezember und dem 1. Februar täglich etwa 1.000 Wale an der kalifornischen Küste vorbei; 25 Jahre später waren es im gleichen Zeitraum täglich nur noch etwa 40 Tiere. Man harpunierte sie im seichten Wasser der Lagunen, Alte und Junge, zwischen 1850 und 1874 etwa 10.000 Tiere. Ende des 19. Jahrhunderts waren nur noch etwa 250 des auf 25.000 Tiere geschätzten ursprünglichen Bestandes übrig, so dass die Jagd nicht mehr lohnte. Seit 1935 ist der Grauwalfang weltweit verboten, aber erst 1972 kam der wirksame Schutz in Form des von den USA eingebrachten Marine Mammal Protection Acts. Seitdem erholte sich der Bestand schnell und hat fast wieder die Zahl vor der Bejagung erreicht, zur Freude der Walbeobachter und Veranstalter. Walbeobachtungen in Mexiko – ein Lehrbeispiel, wie Naturschutz und ökonomische Interessen langfristig in Einklang gebracht werden können.